Lyrisches von Helmut Maier

Scham oder Schande

Ich schäme mich
meiner Gefühle nicht,
sagt sich so leicht.
Ich fühle das Leid.
Was mir wehtut
oder Geschöpfen um mich.
Ich schäme mich nicht,
auch zu weinen
vor Zorn oder Mitleid.
Aber die Schande,
die mich bedrängt,
versuche ich gerne
zur Seite zu drängen.
Beschämt zu werden
drängt mich in Abwehr.
Mitgefühl stirbt gar ab.

Scham ist Beschämtwerden nicht.
Aktiv zu fühlen
und passiv zu leiden
an beschämendem Vorwurf
passen so schlecht
zueinander.

Unsre Ehre muss sein,
uns schämen zu können
von uns aus
und dann zu wirken.

10 Kommentare

  1. Paul Spinger

    „ich ziuh dich ûჳ rehte blôჳ,
    und wirt dîn schame harte grôჳ,
    die dû von schulden danne hâst.“

    HARTMANN V. AUE arme Heinrich, 1086.

  2. Helmut

    Soweit ich das richtig übersetzen kann,lieber Paul, wird hier noch an die „alte“ Zusammenschau von Scham und Schande angeknüpft(die ja auch ursprünglich identisch waren: siehe englisch: shame).

    Liebe Grüße und vielen Dank
    Helmut

  3. giocanda

    Die Schande zur Seite drängen, weil sie uns so bedrängt.
    Wir verharren sozusagen im Totstellreflex, den Kopf im Sand. Nichts sehen, nichts hören, kein Mitgefühl haben – zum eigenen Schutz. Wer kann es dem Einzelnen verdenken?

    Gruß
    Barbara

  4. Helmut

    Genau das wollte ich zeigen, aber auch, dass so keine positiven Gefühle entstehen, die etwas Gutes bewirken.

    Danke, liebe Barbara, und liebe Grüße
    Helmut

  5. Petros

    Scham und beschämt sein und beschämt werden sind für mich in vielerlei Hinsicht schwierigste Themen. Da eine objektivierbare Position für mich zu finden, ist so gut wie unmöglich… zu viel eigene Betroffenheit schwingt da mit.

    Gruß
    Petros

  6. Helmut

    Lieber Petros,

    Danke für die offene Antwort. Ist es nicht so, dass wir ziemlich genau spüren, ob sich beim Auftreten von Scham Handlungsfelder auftun oder wir wie gelähmt sind? Das ist ein möglicher Gradmesser dafür, ob uns jemand Schande anlastet oder wir in Schamhaftigkeit Fehler zu vermeiden in der Lage sind und uns dabei gut fühlen. Das sollte uns dann auch beim Umgang mit anderen Menschen hilfreich sein.

    Liebe Grüße
    Helmut

  7. Elke

    Dieses Gedicht von dir, lieber Helmut, hat viel inhaltliches Potential zum Nachdenken. Zum Zustimmen und zum Widersprechen.

    Die von dir gewählte Form, sich mit dem Gefühl der Scham komplex auseinanderzusetzen, halte ich deshalb für sehr interessant.

    Dennoch, ich gestehe, besteht für mich die Gefahr, an der Oberfläche zu bleiben. Deine vielgestaltigen Gedanken als längeren Prosatext zu lesen, würde mich reizen.

    Was hat die veranlasst zum Nachdenken über die Scham?

    Das fragt neugierig die Elke aus Berlin

  8. Paul Spinger

    Scham
    Übertragung des Gedichts Scham
    „Vergüenza“ von Gabriela Mistral

    Wie du mich ansiehst, bin ich schön,
    schön wie das Sumpfgras glänzt im Tau.
    Wenn ich zum Fluss hinuntergehe,
    erkennt das hohe Schilf mein seliges Gesicht nicht mehr.

    Ich schäm mich des zu schlichten Mundes,
    der Stimme, der gebrochnen, meiner schroffen Knie.
    Wo du jetzt schnell vorbei gekommen bist, mich ansiehst,
    find ich mich arm, fühl ich mich bloß.

    Auf deinem Weg hierher,
    da hast du keinen Stein getroffen,
    der nackter wär im Morgenrot, als ich,
    die Frau, auf die du deinen Blick geworfen hast,
    als du mich singen hörtest.

    Jetzt schweige ich,
    denn niemand soll mein Glück erkennen,
    der aus Zufall meinem Weg begegnet,
    niemand das Leuchten meiner plumpen Stirn,
    und nicht das Zittern meiner rauen Hände …

    Jetzt diese Nacht. Der Tau
    berührt das Sumpfgras.

    Komm, sieh mich lange an,
    Und hüll mich zärtlich ein in deine Worte.
    Am Morgen werde ich,
    Wenn ich zum Fluss hinuntergehe
    In Schönheit strahlen.

    Paul Spinger 2007

  9. Helmut

    @Elke:
    Ich kann hier und jetzt natürlich den ausführlichen Prosatext nicht bieten. Er würde mich wahrscheinlich auch überfordern. Dennoch will ich versuchen zu klären, dass ich zum Beispiel die Scham vieler Deutscher gegenüber dem, was die Deutschen den Völkern der früheren Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg angetan haben, als eine Grundvoraussetzung für die Aussöhnung und die dadurch möglich gewordene Politik Gorbatschows verstanden habe. Damals ist statt Kollektivschuld der Deutschen, die ja zum Teil fahrlässig die Gnade der späten Geburt für sich in Anspruch genommen haben, die Kollektivscham der Deutschen als ein Ausweg aus der Ausweglosigkeit angesehen worden.

    Liebe Grüße, verbunden mit dem Dank für das meinem Text entgegengebrachte Interesse
    Helmut

    @Paul:
    Vielen Dank für die Ergänzung zum Thema, wodurch der Aspekt des Schamgefühls mit in die Debatte eingebracht worden ist.
    In dem so schön von Dir ins Deutsche übertragenen Gedicht ist ja letztlich auch eine positive Auswirkung der Scham (eben in diesem Sinn der Schamhaftigkeit) angesprochen, nicht wahr?

    Liebe Grüße
    Helmut

  10. Helmut

    Liebe Elke,

    Vielleicht ist Dir auch mit meinem Kommentar zu einem Kommentar von Anguane zu meinem Text „Scham“ gedient:
    https://www.maierlyrik.de/blog/2009/02/05/die-scham/#comment-77463

    Nochmal liebe Grüße
    Helmut

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