Lyrisches von Helmut Maier

Monat: Februar 2017

Die Texte, die in Rosens Lyrik-Salon von mir vorgetragen worden sind

Alles Käse?

Wenn ich melke aus dem,
was hinter den Dingen liegt,
wie fasse ich diese Milch?
Sie zerrinnt mir
schon beim Erwachen,
schon wenn ich nüchtern
wieder geworden,
schon wenn ich in der Hand
die Dinge selber wieder fühle.
Dann zerrinnt sie mir
zwischen den tastenden Fingern.

Oder ich trinke sie
und versinke in der anderen Welt
und finde mich nimmer.

Am Käse nehme ich mir
endlich ein Beispiel.
Statt zu zerrinnen,
gerinnen in Festes
soll mir die heilige Milch.
Und wenn schon
aus Saurem geronnen,
so soll’s doch kein Quark sein.

Also in Form gebracht
reife der FORMATICUS,
der formaggio
der fromage
meiner Eingebungen
zum Gedicht

und sei eine köstliche Speise.

Lichtmess

Das letzte Warten hat begonnen.
Den Atem eines Neuen spür’ ich schon.
Er schlüpft in alle Poren,
begeistert Haut und Haare,
erwärmt das Innerste,
lässt neue Träume keimen
und neue Verse,
die das Licht schon spüren,
das sich in aller Heimlichkeit
ins Tagewerk einschleicht
und plötzlich strahlend scheint,
als wäre immer es gewesen.

Das letzte Warten,
das ist eins des Hoffens
auf ganz gewiss Erwartetes,
auf Schlüsselblumen, Lämmerhüpfen,
auf Maienduft, auf grünend
stetes Wachsen, auf Kraft
des Aufstehns und Inangriffnehmens.

Und letztes Warten ist es nur
im Wissen um ein Wiederkehrendes,
das keinen Leerlauf meint,
kein Hecheln hinter unerfüllter
und hemmend hinkend machender
und träge Dämmerung befördernder
Anford’rung her.
Befreit gebunden an das Leben,
ganz ungebunden an den Todeswillen,
geborgen in dem Glauben an
die glaubenlose Zuversicht
des sprühend in das Morgen Tanzens
im heutigen Genuss
des Kreisedrehens
und des Kreischens.

So lasst ein Lichtlein uns entzünden
und leuchten in die starren Räume.
So lasst uns ruhen in dem Dunkel,
dem immer neu das Licht
den Platz einräumt,
um neue Kraft zu schöpfen.
So lasst das Leben uns erneuen.


Frieden? (Impression in Cornwall)

Plötzlich wagt sich
das Rotkehlchen
in die Stube herein,
hüpft auf den Fernsehschrank,
verkündet den Frieden
des Artus,
flattert irritiert durch den Raum
und entflieht.
Da,
um zu versinken
ein Blau
zwischen des Plinius
Pinien
über den viktorianischen Dächern
von Fowey.

Der Wind treibt die Fähre
schneller zum Fußpfad.
Und schon
sammeln die Wolken
das Sonnengold
von den Wiesen der Klippen
und segeln dahin.
Kein Stäubchen trübt mehr
die Sterne.
Spüre ich da Avalon?

Herbst und Winter

Herbst und Winter.
Reife, Tod und ew’ger Kreis.
Voller Geheimnis.


Spaziergangzeit

Blüten die Fülle.
Gelb und weiß und violett.
Spaziergangwetter.

Zwischendurch

Die Wolkendecke.
Blauflächig aufgerissen.
Kein Regen in Sicht.

Ein Achtundzwanziger – so nenne ich die folgenden kleinen Texte – ist ein Dreizeiler wie ein Haiku oder ein Senryu. Er hat aber nicht nur siebzehn Silben wie diese japanische Gedichtform, sondern achtundzwanzig Silben, was mehr Freiheit der Gestaltung zulässt. Das Schema ist dabei nicht wie beim Haiku 5 – 7 – 5 Silben, sondern 8 – 9 – 11 Silben. Der Achtundzwanziger ist auch nicht inhaltlich festgelegt auf Natur (wie der Haiku) oder auf Persönliches (wie der Senryu). Das lässt vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten zu, ohne auf die Festlegung auf Silbenlängen der Zeilen und so eine straffe Führung bei der Erstellung des Textes zu verzichten. Die Gedichtform des Achtundzwanzigers wurde von mir, Helmut Maier, entwickelt.

Es treibt*

Das Frühlingsgezweig der Bäume:
mehr und mehr wird es kecklich umtupft
mit einem Aquarell aus duftigem Grün.

*ein Achtundzwanziger

Frühjahrswunder*

Umrahmt von frischem Birkenflaum,
strukturbetont Geästegrafik.
Geheimnisvolle Schriftzeichenzauberei.


Das Lebensziel*

Unser Lebensweg ist das Ziel.
Oder machen wir Karriere,
um schließlich ein Ziel zu erreichen: den Tod?

*ein Achtundzwanziger

Situationsbedingt*

Draußen vor der Apotheke.
Bepackt voller Arzneischächtelchen.
Gegenüber vorher fühle ich mich krank.

*ein Achtundzwanziger


Glückwunsch

Wenn du einen Weg vor dir hast,
festen Schritt;
wenn du erschöpft bist,
die schöpferische Pause;
wenn du Schutz suchst,
das Schlupfloch der engen Pforte und
die runden Räume der Geborgenheit;
wenn dir’s zu eng wird,
die Weite des Feldes;
wenn dir der Überblick fehlt,
die Bergspitze und die klare Sicht;
wenn dir der Trubel zu groß wird,
ein paar Stunden alleine für dich;
wenn du dich einsam fühlst,
Menschen, die dich beglücken.
Das wünsche ich dir.


Was leider unter den Tisch fiel:

Alternative Fakten

Wir brauchen alternative Fakten.
Die Welt, wie sie ist,
ist nicht mehr
auszuhalten.
Politisch korrekt
ist das natürlich nicht.
Außer wir beschließen
die Umwertung aller Werte.

Dann ist Lüge Wahrheit.
Diktatur Demokratie,
Neoliberalismus Menschlichkeit,
die Nacht wird zum Tage,
der Tag hat achtundvierzig Stunden,
den Sommerschlussverkauf
gibt’s im Winter voraus,
Osterhasen werden
zu Weihnachten verkauft,
Krankheit wird
zur Gesundheit proklamiert.

Mir schwindelt.
Ich taumle.
Wo ist der Anfang,
wo ist das Ende?

Soll ich mich anpassen
an die rechten Populisten,
die den Mehrheitswillen
prognostizieren
als ihren Willen?
Die darin sehen
den Wert der Demokratie,
dass er sich durchsetzen lässt?
Die uns erlauben
politisch unkorrekt zu sein:
Ruhig rassistisch
dürfen wir uns gebärden,
illiberal,
inhuman
auf den eigenen Vorteil
allein bedacht,
unduldsam,
wenn etwas sich
unserem Ego entgegenstellt,
warum sollten wir
Gendergerechtigkeit üben?

Bio ist doch nur etwas
für die abgehobene Elite,
multikulturelle und pluralistische
Lebensart für die Wohlhabenden
auf ihren bequemen Sofas.

Völkischer Dominanz sich anschließen
heißt die Devise.
Das lehrt der Blick herab
vom treuen deutschen First.
Und morgen gehört uns Europa

und übermorgen …?

Mein Auftritt bei Rosens Lyrik-Salon

Ich hatte gestern einen schönen Abend im vollbesetzten Rosens Lyrik-Salon. Nachdem ich an den Anfang des Programms gesetzt wurde, konnte ich nach der Pause ganz entspannt der viel jüngeren Poetin Ina Kitroschat lauschen, die wie ich – so die Ankundigung in der Esslinger Zeitung gestern – „ein Faible fürs Querdenken“ hat.

Ich selber war in der EZ so apostrophiert worden: „Der Aichwalder Poet Helmut Maier verarbeitet in seinen Texten sowohl existenzielle als auch politische Themen.“ Nun muss ich gestehen, dass der politische Akzent gestern Abend – auch wegen meiner falschen zeitlichen Einschätzung der Dauer meines Auftritts – fast unter den Tisch fiel.

Umso mehr freut es mich, dass ich heute bei Facebook an einen wirklich politischen Text erinnert wurde, den ich dort vor einem Jahr gepostet hatte. Den will ich hier nun wie in Facebook gerne wiederholen:

 -

Ich bin mit einigen Gedichten dabei

Wenn’s draußen kalt und dunkel ist, gibt’s am letzten Mittwoch im Februar um 20 Uhr nur eines: Ab in die Spinnerei zu „Rosen’s Lyrik-Salon“ (Spinnerei Maille 3, 73728 Esslingen)!
Auf unserer kleinen, feinen Bühne geben sich Poeten aus dem Großraum Stuttgart die Ehre. Wir garantieren für lyrische Vielfalt und zeigen auch die Menschen hinter den Gedichten.

Mit dabei sind folgende Poeten:
– Ina Kitroschat
– Helmut Maier

In der Pause und nach der Veranstaltung gibt’s wie immer die Möglichkeit, mit Gleichgesinnten und Künstlern an der wohlsortierten „Kultur am Rande“-Bar ins Gespräch zu kommen.
Durch den Abend führt der Literaturwissenschaftler und Slam-Poet Andreas Roos.

Zeitläufte

Lebenssituationen.
Die Zeiger der Veränderung
hüpfen nicht lustig
von einer zur andern.
Sie schwirren im Kreis
der Lebensuhr und
ihr Tempo
macht sie unsichtbar.

Die Geschwindigkeit der Veränderung
reduziert sich zur Sichtbarkeit hin
in den Hautfältchen.

Und die wollen wir
wegretuschieren?

Gedanklich back in the USSR- erneuerte Version aus einem älteren Archiv

Gorbatschow war der moderne Zar,
gefeiert, beargwöhnt
im eigenen Land.
In Vilnius
hatte Intourist uns verlassen.
Beim Aufenthalt
in der Hotelhalle
war die Rede
im Fernsehen
vom Molotow-Ribbentrop-Pakt:
die Namen Hitler und Stalin
in engem Zusammenhang
wollte man – noch nicht –
nennen.
In Leningrad
waren wir
für Intourist
eine chaotische Gruppe, solange
wir noch nicht abgehalten hatten
als Nichtregierungs-Friedensdelegation
die Gedenkfeier
in der Friedhofskapelle
für die Opfer
der deutschen Belagerung.
Danach galten wir
als kreative Gruppe.
Geheimes Treffen
in einer Leningrader Wohnung:
„Gorbatschow will die völlige Herrschaft
an sich reißen.“ Und wir hatten doch
große Hoffnung
auf ihn gesetzt.

Wir wussten damals
noch nichts
von einer kommenden
Namensänderung Leningrads.

Wie es ist

Es ist nicht so,
dass es nicht so ist,
wie es nicht sein soll;
aber es darf nicht so sein.

Es ist nicht so,
dass es schon so ist,
wie es sein soll,
weil wir das Leben lieben.

Es ist so, wie wir es machen,
alle zusammen.
Aber es ist auch so,
wie es sein soll,
wo immer jemand das
so macht.

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